BGH zum beschränkten Beweiswert wiederholten Wiedererkennens
Rechtsanwalt Tobias Goldkamp am 17. Januar 2019Soll ein Beschuldigter von einem Zeugen identifiziert werden, geschieht dies durch eine Wahlgegenüberstellung oder Wahllichtbildvorlage (§ 58 Abs. 2 StPO, Nr. 18 RiStBV). War dem Zeugen der Beschuldigte schon vor der Wahllichtbildvorlage oder Wahlgegenüberstellung als Verdächtiger vorgestellt worden, etwa im Gerichtssaal, auf einem Fahndungsbild oder auf einem Bild aus der Polizeidatenbank, ist der Beweiswert der Identifizierung beschränkt.
Überlagerungseffekt
Ein wiederholtes Wiedererkennen ist nach den gesicherten Erfahrungen und Erkenntnissen der kriminalistischen Praxis nicht verlässlich, weil es durch das vorangehende Wiedererkennen beeinflusst wird. Das zuerst vorgelegte Lichtbild kann die Erinnerung im Gedächtnis des Zeugen regelrecht überschreiben, so dass er bei späteren Identifizierungsmaßnahmen diese Person wiedererkennt, auch wenn er sie nicht als Täter beobachtet hat.
Der beim ersten Wiedererkennen gewonnene Eindruck überlagert die ursprüngliche Erinnerung an das Erscheinungsbild. Ohne sich dessen bewusst zu sein vergleicht der Zeuge den gegenwärtigen Eindruck mit dem Erinnerungsbild, das auf dem ersten Wiedererkennen beruht. In Wahrheit wird also der Angeklagte nicht mit dem Täter, sondern mit der bei der Lichtbildvorlage oder Gegenüberstellung als Verdächtiger vorgestellten Person verglichen.
Selbstfestlegungseffekt / Konservierungstendenz
Hinzu kommt das als Selbstfestlegungseffekt oder Konservierungstendenz von Falschidentifizierungen bezeichnete Phänomen, dass es einem Zeugen schwerfällt, von einer vergangenen Identifizierung abzurücken.
Beschränkter Beweiswert
Daher kommt einem wiederholten Wiedererkennen allenfalls ein beschränkter Beweiswert zu. Der Tatrichter muss sich bei der Beweiswürdigung mit dieser Problematik auseinandersetzen:
„Entgegen dem Antrag des Generalbundesanwalts lässt der Senat die tatsächlichen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen nicht bestehen. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird bei seiner Überzeugungsbildung zur Täterschaft des Angeklagten den beschränkten Beweiswert eines wiederholten Wiedererkennens (vgl. Sander in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 261 Rn. 82; Miebach in MK-StPO, § 261 Rn. 262 jeweils mwN) in den Blick zu nehmen haben.
Hierzu besteht Veranlassung, weil der Geschädigte den Angeklagten vor der polizeilichen Wahllichtbildvorlage zunächst auf einer von seiner Mutter gefertigten, nur den Angeklagten zeigenden Videoaufnahme als Täter wiedererkannte. Auch dem sicheren Wiedererkennen durch den Zeugen S. in der Hauptverhandlung ging eine Wahllichtbildvorlage voraus, bei welcher der Zeuge den Angeklagten ‚ziemlich sicher‘ als die nach der Tat mit dem Fahrrad angetroffene Person identifizierte.“
(BGH, Beschluss vom 04. Dezember 2018 – 4 StR 443/18 –, juris Rn. 9)
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