Keine Verfahrenseinstellung bei Unerreichbarkeit eines Zeugen
Rechtsanwalt Tobias Goldkamp am 30. November 2016Ist ein Zeuge nicht erreichbar, so ist dies kein Grund, das Strafverfahren vorläufig einzustellen. § 205 StGB, der die vorläufige Einstellung bei Abwesenheit des Angeklagten erlaubt, ist nicht auf Zeugen analog anwendbar. Dies entschied das Landgericht Düsseldorf und entsprach damit einer von mir gegen einen Einstellungsbeschluss des Amtsgerichts Düsseldorf eingelegte Beschwerde.
Meinem Mandanten wird Steuerhinterziehung vorgeworfen. Er soll sich an einem Umsatzsteuerkarussell beteiligt haben.
Das Amtsgericht will einen mutmaßlich weiteren Beteiligten des Karussells als Zeugen vernehmen. Gegen diesen Zeugen wird anderweitig ein Strafverfahren geführt. Er ist flüchtig.
Das Amtsgericht stellte daher das Verfahren gegen meinen Mandanten gemäß § 205 StPO vorläufig ein, vermutlich, um die Verjährung gemäß § 78c Abs. 1 Nr. 10 StGB zu unterbrechen.
Auf meine Beschwerde hin hob das Landgericht den Einstellungsbeschluss auf. In der Begründung führt das Landgericht, meiner Argumentation folgend, aus:
„Die analoge Anwendung von § 205 StPO ist im vorliegenden Fall rechtlich nicht zulässig.
1. Zwar wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, dass eine vorläufige Verfahrenseinstellung bei nicht in der Person des Angeschuldigten liegenden, zwar
vorübergehend, jedoch voraussichtlich länger dauernden Verfahrenshemmnissen wie beispielsweise der länger dauernden Abwesenheit eines wichtigen Zeugen zulässig sei (Meyer-Goßner, StPO, 57. Aufl. 2014. § 205 Rn. 8).2. Demgegenüber lehnt die überwiegende Rechtsprechung eine analoge Anwendung des § 205 StPO auf Fälle ab, in denen ein Zeuge für eine unmittelbare Vernehmung
durch das erkennende Gericht nicht zur Verfügung steht (OLG Stuttgart, Beschluss vom 12.06.2001 – 1 Ws 101/01, BeckRS 2001,30186132; OLG Düsseldorf, JR 1984, 436; OLG Frankfurt, NStZ 1982, 218; OLG Koblenz, Beschluss vom 09.10.1992 – 2 Ws 507/92, BeckRS 1992, 31161779; OLG München, NJW 1978, 176; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 29.07.1998 – 1 Ws 314/98, 1 Ws 315/09, BeckRS 1998, 16609; LG Cottbus, NStZ-RR 2009, 246). Zur Begründung wird ausgeführt, für eine Analogie zu § 205 S. 1 StPO fehle es sowohl an einer unbewussten Regelungslücke als auch an einer Rechtsähnlichkeit der Fallgestaltungen. § 205 StPO greife in das Recht des Beschuldigten auf beschleunigte Durchführung des gegen ihn anhängigen Ermittlungs- oder Strafverfahrens ein. Dieser Eingriff sei gerechtfertigt, wenn – wie § 205 Satz 1 StPO es vorsehe – das Verfahrenshemmnis aus der Sphäre des Angeschuldigten komme und für die Justiz unabwendbar sei (OLG Stuttgart, a.a.O.). Diese Rechtfertigung sei indes nicht gegeben bei der länger andauernden Abwesenheit oder Nichtverfügbarkeit von wichtigen Zeugen, denn deren Herbeischaffung sei Sache der mit der Sache befassten Justizorgane. Der Angeschuldigte müsse es nicht hinnehmen, nach Anklageerhebung unbefristet auf die Durchführung des Strafverfahrens zu warten, weil wichtige Zeugen für längere Zeit nicht herbeigeschafft werden können (OLG Stuttgart, a.a.O.).3. Der Bundesgerichtshof hat zu § 205 StPO zwar ausgeführt, die Vorschrift könne entsprechend angewendet werden, wenn noch behebbare Verfahrenshindernisse vorliegen (NStZ-RR 2013, 251 – im dortigen Fall fehlte es bisher an der erforderlichen Zustimmung des ausliefernden Staates zur Aburteilung wegen des begangenen Delikts). Andererseits ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für eine Verfahrenseinstellung nach § 205 StPO kein Raum, wenn ein Zeuge für eine unmittelbare Vernehmung nicht zur Verfügung steht (BGH, NStZ 1985, 230).
4. Im vorliegenden Fall kann dahinstehen, ob – entsprechend der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte – eine Verfahrenseinstellung nach § 205 StPO stets voraussetzt, dass das Verfahrenshemmnis, das Anlass für die Einstellung gibt, in der Sphäre des Angeschuldigten liegt. Jedenfalls ist eine analoge Anwendung des § 205 StPO auf Fälle der Unerreichbarkeit eines Zeugen nach Ansicht der Kammer ausgeschlossen. Dies folgt schon daraus, dass es in derartigen Fällen schon an einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke fehlt. Denn der Gesetzgeber hat das Problem, dass ein Zeuge für die unmittelbare Vernehmung durch das erkennende Gericht nicht zur Verfügung steht, gesehen und für die Fälle der Verhinderung eines Zeugen für längere Zeit (§ 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO) oder für absehbare Zeit (§ 251 Abs. 2 Satz 2 StPO) die Verlesung von richterlichen bzw. nichtrichterlichen Vernehmungsprotokollen zugelassen (vgl. BGH, NStZ 1985, 230; OLG Stuttgart, a.a.O.). Steht daher ein Zeuge auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung, so ist die Lösung des Konflikts zwischen der Beschleunigung des Verfahrens einerseits und der Ermittlung des wahren Sachverhalts andererseits darin zu suchen, dass eine frühere Aussage des Zeugen nach § 251 StPO verlesen wird oder das Verfahren ohne den Zeugen fortgesetzt wird (Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl. 2013, § 205 Rn. 16).
Vorliegend ergibt sich aus in der Akte befindlichen Anklageschrift aus dem Verfahren vor dem Landgericht Darmstadt {Bl. 129 ff. der Akte), dass der Zeuge in dem jener Anklage vorausgegangenen Ermittlungsverfahren Angaben als Beschuldigter gemacht hat. Derartige Angaben des Zeugen die sich auch auf die hier anklagegegenständlichen Geschäfte mit der … beziehen, können im vorliegenden Verfahren gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesen werden. Denn wenn der Zeuge unerreichbar ist, dann kann auch ein nichtrichterliches Protokoll, aufgenommen von der Staatsanwaltschaft, der Polizei oder der Finanzbehörde, verlesen werden, unabhängig davon, in welchem Verfahren das Protokoll aufgenommen worden ist und unabhängig davon, ob der Zeuge in jenem Verfahren Zeuge oder Beschuldigter war (Meyer-Goßner, StPO, 57. Aufl. 2014, § 251 Rn. 13).
Abgesehen von dieser Möglichkeit der Verlesung nach § 251 StPO und der unzulässigen Analogie zu § 205 StPO ist die Einstellung nach § 205 StPO aber auch deshalb unzulässig, weil schon nicht ersichtlich ist, inwieweit der Zeuge L. überhaupt ein zentraler Zeuge ist. Immerhin ist er weder als Beweismittel im Strafbefehl aufgeführt, noch befindet sich eine Aussage von ihm in der vorliegenden Verfahrensakte.“
(LG Düsseldorf, Beschluss vom 11.08.2016 – Az. 014 Qs-120 Js 254/15-29/16)
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