BGH verändert Rechtsprechung zu Schockschäden
Rechtsanwalt Tobias Freymann am 13. Januar 2023Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung können psychische Störungen von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung darstellen, die u.a. im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Schmerzensgeld auslösen können. Diese Rechtsprechung ist insbesondere im Bereich sog. „Schockschäden“ relevant. Hierbei geht es um Fälle seelischer Erschütterungen wie Trauer oder seelischen Schmerzes, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind.
Dieser Grundsatz hatte nach der bisherigen ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (zuletzt: BGH, Urt. v 21. Mai 2019 – VI ZR 299/17) aus Sicht der Betroffenen jedoch erhebliche Einschränkungen erfahren: Psychische Beeinträchtigungen galten nur dann als „Gesundheitsverletzung“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB, wenn sie pathologisch fassbar waren (also: objektiv medizinisch festgestellt sind) und über jene gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgingen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt waren.
Ein Anspruch auf Schadensersatz bzw. Schmerzensgeld hatte mithin nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn Betroffene eine Schockreaktion erlitten, die in ihrem Ausmaß über das hinausging, was eine andere Person in einer vergleichbaren Situation ihrerseits erlitten hätte. Oder noch einfacher: Erforderlich war eine Art „besonders gravierende“ Schockreaktion von Bruder A beim Tod des eigenen Vaters im Vergleich zur „normalen“ Schockreaktion von Bruder B und Bruder C.
Durch dieses Erfordernis gerieten Betroffene in der Praxis häufig in Beweisschwierigkeiten. Wann gesundheitliche Beeinträchtigungen vorliegen, die „über das Regelmaß“ hinausgehen, ist erkennbar schwierig festzustellen und unabhängig von Gesetz und Rechtsprechung eine recht makabre Fragestellung in sich selbst.
An dieser Rechtsprechung hält der BGH nun ausdrücklich nicht mehr fest, nachdem diese überspannten Anforderungen auch in der juristischen Literatur auf viel Gegenwind gestoßen sind. Der BGH vertritt nunmehr die Auffassung, dass im Falle von „Schockschäden“ eine pathologisch fassbare psychische Störung eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellt (BGH, Urt. v. 06.12.2022 – VI ZR 168/21). Das zusätzliche Vorliegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung „außergewöhnlichen Ausmaßes“ ist nunmehr nicht länger erforderlich. Zudem hat der BGH in gleicher Entscheidung damit klargestellt, dass auch solche Gesundheitsverletzungen erfasst werden, die bei dem Geschädigten „mittelbar“ durch die Verletzung des Rechtsguts eines Dritten verursacht werden.
Diese Entwicklung in der Rechtsprechung ist äußerst erfreulich und stärkt die Stellung von Betroffenen, die aufgrund von Schockschäden psychische Beeinträchtigungen erleiden.
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